Wortbilder
Zeitungscollagen als Visuelle Poesie
Inhaltsverzeichnis Wortbilder
- Eine kleine Einordnung
- Drei Wortbilder - Kurz erklärt
- Großformatige Großgedichte
- NICHTS in der Zeitung
- Wortbilder im Dialog mit Originalton-Hörspielen
- und/pun - Drehbare Wortwerke
- Weitere Wortbilder
- die/die/die - Collagen aus Vergänglichkeit
- Poetischer Reisekoffer- Alles/Nichts
- "Erde, ich werde Deine Liebe beweinen"
- "Gesetztes" - Unschlagbare Schlagzeilen
- Zeitungsarchiv - Sammlung und Wortschatz
Eine kleine Einordnung
Poesie aus dem Fundus der Presse
Viele meiner Wortbilder lassen sich als
Visuelle oder
Konkrete Poesie lesen: Es sind Gedichte aus Zeitungssprache, in denen Bedeutung, Rhythmus und Bildfläche zusammenwirken.
In der Tradition der Collage – man denke an Kurt Schwitters, Hannah Höch oder Raoul Hausmann – verschränke ich typografische Formen mit inhaltlichen Bezügen. Anders als klassische Zeitungscollagen arbeite ich jedoch mit eng gefassten Wortfeldern: ein „und“-Bild, ein „Traum“-Bild, ein „Nichts“-Bild. Aus Hunderten gleichartiger Fundstücke wächst ein neues, dichtes Textgewebe.
Grundlage dieser Arbeiten ist ein über viele Jahre aufgebautes Zeitungsarchiv, mein Wortschatz. Mehr als 300.000 Wort- und Satzfragmente sind in über 250 Kategorien geordnet – nach Wörtern, Themen, Grammatik und Typografie. Aus diesem Fundus montiere ich jedes Wortbild Schicht für Schicht, bis ein reliefartiges, haptisches Textfeld entsteht.
Viele der hier gezeigten Collagen bestehen aus Wörtern und Schlagzeilen eines einzigen Zeitungshauses – etwa der ZEIT, der WELT, der F.A.Z., des Tagesspiegels, der Berliner Zeitung, der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung oder der New York Times. Große Arbeiten mit Breiten von über zwei Metern beruhen oft auf einer Sammelzeit von fünfzehn Jahren; ihre Umsetzung im Atelier dauert mehrere Monate.
Zu zahlreichen Wortbildern existieren akustische Geschwister: Originaltonhörspiele, die mit einem vergleichbaren Prinzip arbeiten. Wie in den Collagen werden auch hier Fundstücke – Stimmen, Sätze, Geräuschsplitter – aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, archiviert und neu montiert. Bild und Klang gehören dabei zu einem gemeinsamen Werkzusammenhang, in dem Zeitungssprache und Radioton sich gegenseitig kommentieren und weiterschreiben.
Zusammenfassend kann man diese zeitschluckende Wortsuche gut mit einem Vers von Karl Krolow beschreiben:
Lange folge ich
einigen Worten.
(Karl Krolow, "Älter werden")
Auch folgende Worte Rilkes kommen mir bei der aufwendigen Arbeit des Sortierens und Archivierens stets von Neuem in den Sinn:
Uns überfüllts.
Wir ordnens.
Es zerfällt.
Wir ordnens wieder
und zerfallen selbst.
(Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, 1923)
Jean-Paul Sartre hat einmal von einer „Liebe zur Ordnung“ gesprochen, die den Dingen ihre „ruhige Dauer“ zurückgeben will – jenseits der Zerrissenheit von Zeit und Raum. Dieser Gedanke beschreibt den Impuls hinter meinen Sammlungen sehr genau.
Und bei Italo Svevo findet sich in Zeno Cosini der für meine Arbeit zentrale Satz:
"Ein Wort musste für mich ein Ereignis an sich sein
und durfte daher von keinem anderen Ereignis abhängen."
(Übersetzung: Piero Rismondo)
Drei Werke, eine Einführung
1. "... und in Wiepersdorf"
Dieses Bild ist das Ergebnis einer fünfjährigen Sammelzeit des Wortes "und" im Tagesspiegel. Das "und" hat jeweils die gleiche Größe und stand ursprünglich über einer Photographie. Aus Aberhunderten von Streifen formte ich dieses neue Bild der Medienwelt als Text-Bild-Kombination.
Der künstlerische Prozess war geprägt von einer unerwarteten Wendung: Der Tagesspiegel änderte sein Layout und beendete so meine Sammelzeit. Plötzlich mußte ich aus einem abgeschlossenen Fundus schöpfen. Dies zwang mich, mit dem Vorhandenen auszukommen und eine neue Form zu finden. Drei Monate lang verbrachte ich in Wiepersdorf (Brandenburg) damit, diese Fragmente zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen – die intensive Schaffensphase gab dem Werk seinen Titel.
2. "die, die, die Madonna"
Für diese Collage aus dem Jahr 2017 sammelte ich über sechs Jahre hinweg das deutsche Wort die, das ich im englischen Sinne als vergehen oder sterben lese. Es ist eine moderne Mariendarstellung: Eine Frau hält ein Kind im Arm und schaut uns an, während ein Zeichen auf uns, die Betrachter, weist – eine bewusste Anlehnung an die Hodegetria, die byzantinische Ikone, die "die Wegweisende" zeigt.
So wie in vielen Mariendarstellungen bereits der Tod angedeutet wird, sei es durch Distelfink, Granatapfel, Nägel oder Schatten, flocht auch ich Wegweiser ein. Doch da subtile Zeichen heute im Allgemeinen schwer lesbar geworden sind, entschied ich mich für das direkte Wort. Dies entspricht darüber hinaus eher dem Wesen der Zeitung, welches unverschnörkelte Klarheit sucht. Über allen Köpfen schwebet nun als Fingerzeig das Wörtchen die als unverbrüchliche Vorhersage des unentrinnbaren Endes.
2023 wählte Berlins Bischof Dr. Christian Stäblein dieses Werk aus, um es für den Verlauf einiger Wochen in seinem Büro aufzuhängen. Seine einführenden Worte zur Ausstellung finden Sie hier verlinkt: "Was er macht, ist so eindrücklich, mir fehlen die Worte".
3. Großes Wortbild
Dieses großformatige Bild ist eine Reliefcollage aus Zeitungsausschnitten auf Triplexpappe. Es basiert auf einer 15-jährigen Sammlung von Überschriften aus dem Tagesspiegel, die sämtlich das Wort „Wort“ oder verwandte Begriffe enthalten. Es ist ein Kunstwerk aus Geduld und Zeitungspapier.
Das Werk lebt als komplexes Großgedicht, ein Gedicht aus Papier, das in verschiedene Richtungen gelesen werden kann — von links oben ("Im Anfang war das Wort") nach rechts unten ("Am Ende ist das Wort"), aber auch kreuz und quer. Ein besonderes Element ist das komplette Alphabet, das sich in einem Halbkreisbogen durch das Bild zieht. Es beginnt links unten mit „Trifft das A einen Tropfen“ und endet rechts mit „Z wie Zweitlogik“.
Während des Arbeitsprozesses stellte ich fest, dass inhaltliche Lücken bestanden. Um die fehlenden Überschriften zu finden, musste ich Zeitungen bis ins Jahr 1998 zurück bestellen – ein Glücksfall, daß ein solches Archiv zugänglich war und die Sammlung so vervollständigt werden konnte.
Als allergrößtes Glück fügte sich zu guter Letzt meine Unterschrift ins Bild. Denn in einem Tagesspiegel-Artikel von Gunda Bartels hieß es über mein Werk: "Carsten Schneider ist ein Freund des geschnittenen Wortes" - und diese Überschrift konnte ich rechts unten als Unterschrift einfügen! Zudem nimmt dies einen interessanten Gedanken aus Frau Bartels Artikel auf, denn dort fragt sie zum Ende hin: "Ob der Künstler auch Teile dieses Artikels eines Tages für eines seiner Werke verwenden wird?" Wird er, hat er.
Das Bild entstand als
Auftragswerk und hängt heute im Tagungsraum einer großen Verlagsanstalt in Stuttgart. Die Photographie stammt von
Loredana Nemes.
Großformatige Großgedichte
Serie "Nichts in der Zeitung"
Die profunde Stille des Nichts
Unter dem Serientitel „Nichts in der Zeitung“ setze ich mich mit einem Wort auseinander, das in der täglichen Berichterstattung ständig auftaucht und doch schwer zu fassen ist: dem „Nichts“. Die bislang vier gleichformatigen Collagen (84 × 60 cm) sind über viele Jahre hinweg entstanden. Für jedes Bild habe ich ausschließlich Material eines einzigen Zeitungshauses verwendet: F.A.Z., Berliner Tagesspiegel, „Die Welt“ und „Die Zeit“. Gesammelt und ausgeschnitten habe ich nur das Wort „Nichts“ – ergänzt um unbedruckte, leere Partien der Zeitung, die dasselbe zeigen: nichts. Jede Collage ist einem Verlag gewidmet und bleibt strikt auf dessen Papierkosmos beschränkt. Zwei weitere Arbeiten auf Basis der Berliner Zeitung und der SH/Z sind derzeit in Arbeit.
Die Bildfelder ordne ich in einer strengen, fensterartigen Struktur an. Die Zeitungsausschnitte kaschiere ich auf 1,5 mm starke Triplexpappe, sodass sie als kleine Reliefs vor dem Grund stehen. Schmale Fugen trennen die einzelnen Elemente – auch das sind Zonen des Nichts. Die Anmutung von Kirchenfenstern ist für mich dabei ein wichtiger Bezugspunkt: Wie dort Bleiruten Glasflächen zu einem Bildprogramm fassen, so bündeln hier typografische Partikel und Leerstelle die Logik der Tagespresse. Mich interessiert die Reibung zwischen dieser sakral anmutenden Form und dem profanen Material der Zeitung – zwischen der flüchtigen Nachricht und der Frage nach Sein und dem Nichts. Gleichzeitig knüpfen die Arbeiten an die Berliner Tradition der Dada- und Zeitungscollage an, ohne sie zu kopieren: Die radikale Beschränkung auf ein einziges Wort und ein einziges Zeitungshaus schärft den Fokus auf das Weggelassene.
„Nichts in der Zeitung“ ist Teil einer größeren Recherche, die ich in unterschiedlichen Medien verfolge. Sie setzt sich fort im Faltretabel „Alles-Nichts-Altar“ und in meinen Hörspielen „Wir sagen nichts“, „Keine Meldung im Deutschlandfunk“ und „Der Atem eines Tages im Deutschlandfunk“. In ihnen untersuche ich das Ungesagte, Nicht-Gesendete, Überhörte – in Sprache, Klang und Bild. Die Collagen dieser Serie verstehe ich deshalb als Einladung, über die Bedeutung von Absenz in einer informationsreichen Welt nachzudenken – oder auch einfach nur die stille Präsenz des Nichts im Raster der Zeitung wahrzunehmen. Die Arbeit an dieser Serie ist offen angelegt und wird fortgesetzt.
Wortbilder im Dialog mit Originalton-Hörspielen
Die akustischen Geschwister
Die hier versammelten 28 Wortbilder sind nicht nur eigenständige visuelle Kompositionen aus akribisch gesammelten Zeitungsausschnitten. Sie bilden zugleich den bildnerischen Pol eines größeren Projekts: der Originaltonhörspiel-Reihe „Die Konstruktion des Deutschlandfunks“.
In einem parallelen, ebenso zeitaufwendigen Arbeitsprozess werden Sendemitschnitte des Deutschlandfunks nach klanglichen, thematischen und grammatischen Kriterien zerlegt, geordnet und neu montiert. Aus Stimmen, Pausen, Versprechern, Satzresten und Geräuschsplittern entstehen dichte Klangtexturen – akustische Geschwister der Wortbilder, die häufig auf denselben Wortfeldern, Motiven oder formalen Setzungen beruhen.
So entwickelt sich ein intensiver Dialog zwischen Schriftbild und Wortklang, zwischen visueller Poesie und auditiver Montage. Die Betrachtung der Collagen gewinnt durch das Hören der jeweiligen Originaltonkomposition eine zusätzliche Dimension: Sehen und Hören verschränken sich, erweitern die Wahrnehmungsebene und öffnen ein Feld von Assoziationen, in dem Zeitungssprache und Radioton einander wechselseitig kommentieren.
Die Orte eines Monats in BILD
150 cm x 200 cm
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
Die Infinitive eines Monats in BILD
130 cm x 130 cm
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
Die Zahlen im Tagesspiegel
97 cm x 164 cm
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
S war einmal im Tagesspiegel
172 cm x 244 cm
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
Das N der WELT
365 N aus der WELT aus dem Wort FeuilletoN
128 x 90 cm
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
Die Nomen eines Monats im Tagesspiegel
22 alphabetisierte Collagen
Gekoppelt mit dem O-Ton-Hörspiel:
Serie "The und-pun"
Die visuelle Verwandlung eines Wortes
"The und-pun", eine Werkgruppe, in der die unscheinbare deutsche Konjunktion "und" eine überraschende Metamorphose erfährt. Jede dieser Zeitungscollagen ist eine Ansammlung hunderter, präzise positionierter "und"-Fragmente aus jeweils einer deutschen Zeitung.
Doch die epische Monotonie birgt ein visuelles Wortspiel: Wendet der Betrachter das Bild um 180 Grad, enthüllt sich auf wundersame Weise das englische "pun". In dieser einfachen Drehung verschmelzen zwei Sprachen und zwei Bedeutungsebenen. Das allgegenwärtige "und", das verbindet und fortsetzt, transformiert sich in den "pun", englisch für das geistreiche Wortspiel, das zum überraschenden Perspektivwechsel einlädt.
"The und-pun" ist somit mehr als eine visuelle Wiederholung; es ist eine spielerische Reflexion über die Vielschichtigkeit von Sprache, die Bedeutung von Perspektive und die überraschenden Verbindungen, die in der scheinbaren Eindeutigkeit von Wörtern verborgen liegen. Diese Collagen fordern dazu auf, genauer hinzusehen und die verborgenen Potenziale der sprachlichen Form zu entdecken – eine Einladung zum visuellen und intellektuellen Drehsinn.
Serie "die/die/die"
Eine Collage der Vergänglichkeit
In diesen Wortbildern begegnet dem Blick auf jedem Zeitungsstreifen, in jedem sorgfältig gewählten Ausschnitt unzählige Male das deutsche Wort "die". Eine scheinbare Wiederholung, die jedoch eine tiefere, englischsprachige Konnotation in sich birgt: "die" – sterben, vergehen.
Diese Collagen sind ein visuelles Gedächtnis der inhärenten Vergänglichkeit, die dem Medium Zeitung eingeschrieben ist: Die tagesaktuellen Meldungen verlieren ihre Relevanz, erkalten und veralten. Das Papier selbst, einst Träger dringender Nachrichten, wird zerknüllt, zerknittert, verwittert und schließlich verweht es und vergeht es.
Die Veränderungen in der Medienlandschaft spiegeln diese Flüchtigkeit wider: Journalisten werden entlassen, Redaktionen geschlossen, Druckhäuser eingestellt. Das vielfache "die" auf der Oberfläche der Collagen wird so zum stillen Echo dieses unaufhaltsamen Prozesses des Vergehens – eine visuelle Poesie der Transformation und des Abschieds.
Karl Krolow bemerkte in seinem Gedicht "Wir leben schneller" bereits 1995:
(...) Halb schon Legende:
die Tageszeitung, wenn wir sie
aus der Hand legen und verbreitete Demenz
zwitschert, planetarisch geworden.
Außen Alles - Innen Nichts
Mein Poetischer Reisekoffer:
Ein Klappmal der Vergänglichkeit
Wie ein Echo aus einer anderen Zeit erhebt sich der "Alles-Nichts-Altar", ein Triptychon, dessen geschnitzter Holzrahmen die lapidare Inschrift "NIX" trägt – die Essenz des großen Nichts, das im Zentrum dieses ungewöhnlichen Klappaltars steht. Anstelle sakraler Ikonen offenbart sich eine Oberfläche, die von der Flüchtigkeit des Augenblicks zeugt: Zeitungsausschnitte, Fragmente einstiger Nachrichten, die nun in neuer Konstellation eine tiefere Wahrheit enthüllen. Geschlossen präsentiert die Front hundertfach die Worte "Alle" und "Alles", eine Omnipräsenz, die auf der Rückseite in ein Meer schwarzer Zeitungspartikel mündet.
Doch mit dem Aufklappen offenbart sich das eigentliche Paradox: Auf drei Flächen erscheinen unmissverständlich die Worte "Nicht" und "Nichts". Jeder dieser unscheinbaren Zeitungsschnipsel war einst Träger einer bedeutenden Meldung, doch im Laufe der Zeit ist die konkrete Information vergangen. Was bleibt, ist die reine Form, die typografische Essenz, die im "Alles-Nichts-Altar" zu einem stillen Mahnmal der Vergänglichkeit wird. In Anlehnung an die Tradition der Faltretabel, die einst Andacht und Kontemplation dienten, lädt dieses Werk zur Reflexion über die Natur der Information, ihre Halbwertszeit und das unaufhaltsame Verblassen des Gewesenen ein.
Es ist eine typografische Collage, die die Geschichte der Nachrichten selbst in ihre Einzelteile zerlegt, um im Resultat die universelle Leere zu offenbaren: NICHTS.
Weitere Wortbilder
Erde, ich werde Deine Liebe beweinen
Gesetztes
Serie kostbarer Schlagzeilen und Zwischentexte
Sammlung, Archiv, Wortschatz
Mein Archiv in Zahlen
- über 300.000 Wort- und Satzfragmente
- mehr als 250 Kategorien
- Sammelzeit: mehrere Jahrzehnte
- Material: ausschließlich Zeitungspapier
- Bei einem Wasserrohrbruch 2025 in der Wohnanlage über meinem Atelier wurde ein Teil der Sammlung vernichtet.
Stand November 2025


























































































































































































































































































