Geschichten

Kurzgeschichten

Kleine Perle Glück

Geschichten aus dem Neubaugebiet der Herzen


"In den abgründigen Erzählungen mit dem Titel „Kleine Perle Glück“ nimmt uns Carsten Schneider mit in die Welt der Eigenheime, Carports und Gärten. Die Radiokunst von Schneider ist preisgekrönt und oft skurril – so wie diese Einblicke in ein Eheleben.

Das Häuschen steht, im Garten sieht man die ersten Knospen an den Zweigen, und zwei Menschen suchen ihr Glück. Carsten Schneider erzählt Szenen aus dem Leben eines Ehepaars. Assoziativ, skurril und manchmal abseitig. Aus ihren Erlebnissen, ihren Tag- und Nachtträumen entsteht eine Welt voller Überraschungen, Hoffnungen und Abgründe. Und auch der im Keller lebende Geist des Großvaters scheint auf einige Fragen keine Antwort zu wissen."

Text von der Redakteurin Tanja Runow, abgedruckt im Programmheft des Deutschlandfunks. Im Frühling 2019 sendete "Deutschlandfunk Kultur" an jedem Samstag eine Geschichte aus "Kleine Perle Glück" als Autorenlesung.


Einige Kurzgeschichten sind online zu hören

auf der Website vom Deutschlandfunk unter dem Link:

Link zu Deutschlandfunk "Kleine Perle Glück"

Im Sommergarten

Hellblau und rosa weht der Morgenhimmel herbei und erklärt mir ungefragt, warum die Mütter ihre kleinen Kinder in eben diese Farben wickeln. Zufrieden entfalte ich die Zeitung. Meine Frau hat die schlimmsten Nachrichten bereits ausgeschnitten. Die Welt kann so schön sein. Durch die Zeitung sage ich zu meiner Frau:
„Ich brauche dich.“
Sie antwortet nicht. Sie liegt im Garten und weint. Ich schleiche durchs hohe Gras an sie heran wie ein kleiner Hund und schnappe die Wurst von ihrem Brot. Am Komposthaufen stellt sie mich zur Rede:
„Mein lieber Mann, was ist bloß in dich gefahren?“ Ich werfe mich zu Boden, rolle auf den Rücken und strampele mit den Beinen. Meine Frau schimpft:
„Deine ewige Verschlossenheit hat die neuen Nachbarn gestern tief beleidigt!“ – Gestern feierten wir ein Gartenfest, meine Frau, die neuen Nachbarn und ich.
„War ich wirklich verschlossen?“, frage ich treuen Blickes.
„Du hast den ganzen Abend nicht ein Wort gesagt!“
Ich knurre meine Frau an: „Man hat mich ja nichts gefragt!“
„Du hast auf deinem Stuhl gehockt wie ein stummes Stück Holz!“
„Die inneren Worte zählen ...“, entgegne ich trotzköpfig.
Jetzt braust meine Frau auf: „Du ziehst deine Schuhe an und entschuldigst dich bei den Nachbarn!“
„Ja, mache ich.“
Ich klopfe an die Nachbarstür. Die Nachbarsfrau freut sich. Ich lächele. Weiter fällt mir nichts ein. Mein Mut sackt in mir zusammen.
„Möchten Sie meinen Mann sprechen? Der sitzt schon lange bei den Fischen, er angelt im Gartenteich; sehen Sie, wie er in der Sonne schimmert?“ Die Nachbarin knufft mir neckisch in die Seite. Ich packe sie am Hals. Lachend windet sie sich los, bittet mich in die Küche und schenkt mir Kaffee ein. Sie kommt auf meine Kinder zu sprechen. Ich atme tief durch:
„Ja, die Kinder“, sage ich, „die Kinder, die Kinder …“
„Hätte ich Kinder“, säuselt sie, „säßen meine Söhne mit am See. Mein Mann lehrte sie, das Netz zu werfen, mit dem Wind zu sprechen und die Segel zu hissen. Ich stünde derweil mit den Töchtern in der Küche. Wir brühten Kaffee und erwarteten sehnsüchtig die schweren Schritte der Männer auf der Diele, wenn sie wiederkehren in nassen Stiefeln, einen Korb voller Fische auf dem Rücken und einen Strauß von Seerosen unter dem Arm.“
Die Nachbarin lehnt sich weit aus dem Küchenfenster und seufzt. Ich überlege, wie ich der lieben Frau helfen kann, und als es mir einfällt, will ich weglaufen. Sie aber hakt ihren Arm in meinen:
„Kommen Sie, Nachbar, ich zeige Ihnen den Sommergarten!“

Sie reißt mich mit sich:
„Riechen Sie die Pferde? Da drüben grast der Wallach, und daneben steht die Stute, sieht sie nicht trächtig aus? Hier vorn pflanze ich Gemüse, und dahinter sehen Sie die Bienenstöcke. Imkern Sie auch? Kennen Sie den wundervollen Schwänzeltanz der Bienen? Mein Mann zeigt Ihnen das beizeiten. Doch folgen wir nun diesem Kiesweg hinauf bis zum großen Ameisenhaufen. Dort gelangen wir an einen Scheideweg: rechts führt er in den Irrgarten meines Mannes, und zur Linken liegt mein Weingarten. Da sitze ich am liebsten im Schatten der Trauerweiden und träume von meinen Kindern. Ich liebe Kinder und mein Mann auch. Deswegen saß er sogar im Gefängnis. Wir adoptierten Zwillinge, aber die sind nie bei uns angekommen.“
Die Nachbarin schaut versunken zum See hinüber:
„Ich weiß nicht, wo mein Mann so lange steckt? Er versprach, heute noch Holz zu hacken für mein Geburtstagsfeuer am nächsten Sonntag. Sie sind ganz herzlich eingeladen! Und vergessen Sie Ihre Frau nicht, und ziehen Sie sich bitte etwas Indianisches an: Wir planen ein Fruchtbarkeitsritual!“
Ich stolpere über eine Gießkanne in ein Erdbeerbeet. Ich will nach Hause.
„Sie wollen schon gehen?“, fragt die Nachbarin, „darf ich Ihnen wenigstens ein Stück Bienenstich einpacken für die Kinder – oder einen Flamingo für die Frau? Nein? Dann bringe ich Sie jetzt zur Tür.“
Ich hüpfe nach Hause. An der Gartenpforte empfängt mich meine Frau:
„Na, hast du dich bei den netten Nachbarn entschuldigt?“
„Ja, habe ich – innerlich.“ Ich deute auf den Bauch meiner Frau und frage:
„Bist du bereit für ein Kind?“ Doch statt zu antworten, verschwindet sie schnurstracks in der Küche und schließt hinter sich ab.
Gedankenverloren steige ich in den Partykeller hinab und lege eine Patience. Mit jeder Karte erscheinen neue Gäste, trinken Erdbeerbowle, scherzen und verdrehen sich langsam die Köpfe. Verkleidete Kinder huschen uns durch die Beine. Die Nachbarin tanzt mit ihrer Stute, und in der Bowle steht ein rosa Flamingo. Mit der letzten Karte verschwinden die Besucher abschiedslos. Alles ist wie zuvor, nur eine halb ausgesogene Frucht liegt noch auf dem Couchtisch. Mit Weinbrand spüle ich sie herunter, nehme ein Photoalbum aus dem Schrank und betrachte meine Kindheit. Ich sehe den Großvater. Ich lehne den Großvater zurück in den Korbsessel und lausche seinen Geschichten; sie halten die Vergangenheit am Leben. Ich türme einen babylonischen Papierstapel auf den Tisch und sehe den Großvater nicht mehr. Ich höre ihm zu, aber vergesse zu schreiben. „Morgen“, sage ich mir; und morgen ist der Großvater tot. Mein Blatt ist leer.
Ich weine:
„Schatz, ich habe Seife im Auge, komm bitte schnell!“ Wenn ich so jämmerlich rufe, kommt meine Frau stets gelaufen. Sie findet es lächerlich, aber sie kommt. Ich schmiege mich an ihren Hals und schluchze:
„Der Großvater saß wieder im Sessel!“ Sie streichelt mir die Wange. Ich sei ein erwachsener Mann, sagt sie, und sie frage sich, wie ich es bis hierher geschafft habe? Und sie flüstert in mein Ohr:
„Verbrenne den alten Sessel!“ Ich stutze. Ich verstehe zu wenig von meiner Frau. Sie geht in den Garten und schaukelt. Sie schaukelt über Stunden hinweg. Ich beäuge sie durch die Kellerluke. Nur selten springt sie ab, beugt sich zu Boden, pflückt ein trockenes Blatt aus den Beeten und schaukelt dann versonnen weiter. Auf den Höhepunkten ihrer Schwungkurve blickt sie zu den Nachbarn hinüber. Ich rufe meiner Frau ein Kompliment zu:
„Du bist heute unsagbar schön!“ Keine Antwort. Ich rufe erneut:
„Dein Pferdeschwanz flattert im Wind wie ein … ein …“ Mir fällt nur ein Pferdeschwanz ein.
Meine Frau entdeckt mich. Sie schwingt sich von der Schaukel und schüttelt den Kopf. Sie hört nicht auf, den Kopf zu schütteln. Sie steigt auf die Wippe und wartet. Worauf wartet sie? Ich denke nach: Ist mir in den letzten Wochen irgend etwas an meiner Frau aufgefallen? Nein, sie hat sich nicht verändert, ich habe sie nicht verändert, und wir haben uns nicht verändert. Sie muss schwanger sein, tiefschwanger! Ich eile in den Garten, kniee nieder und küsse den Bauch meiner Frau.
Sie stupst mich von sich, glättet ihren Rock, und schmollmundig sagt sie:
„Du weißt, daß wir keine Kinder haben wollen.“ Mich durchzuckt eine Idee. Ich klettere auf den Apfelbaum und linse über den Gartenzaun. Die Nachbarn voltigieren gerade. Die Frau trägt ein silbernes Tutu und spreizt sich auf dem Rücken des Pferdes. Ihr Mann hält gelassen die lange Leine. Ich rufe über den Zaun:
„Hallo! Nachbarn! Wir würden gerne mitreiten! Es geht aber nicht! Denn wir kümmern uns den ganzen Tag um unsere Kinder!“ Die Nachbarin reißt ihren Rappen herum, und ihr Mann hält inne. Die ganze Welt kommt langsam auf mich zu. Ich wende mich zur Gartenlaube und rufe:
„Kinder! – kommt und guckt die Nachbarn an!“ Die Laube steht still und schweigt. Ich laufe in die Laube und rede lautstark mit den Gartenstuhlpolstern. Rasch greife ich einen Zeichenblock, kritzele ein paar Striche aufs Papier und flitze zurück zum Nachbarzaun.
„Schauen Sie, liebe Frau Nachbarin, das haben die Kinder für Sie gemalt! Da sehen Sie die Kleinen auf dem Spielplatz, dahinter die Sonne und den sterbenden Großvater!“ – Ich frage mich, wie der Großvater aufs Papier gekommen ist? – Meine Frau wird so rot wie die untergehende Sonne. Die Nachbarin blickt hoch zu Ross auf mich herab und reitet in den Abendhimmel hinaus.
Der Sonntag beginnt pünktlich. Zum Indianergeburtstag möchte ich der Nachbarin ein neues Bild malen mit dem Titel Die Kinder im Apfelbaum. Doch der Baum sprengt den Rahmen meiner malerischen Möglichkeiten. Ich beschließe, den Apfelbaum entsprechend zu stutzen, greife einen weit herabhängenden Ast und lege die Laubsäge an. Meine Frau hebt die Hände gen Himmel:
„Der Baum hat in diesem Jahr noch keine Früchte getragen!“
Sie stellt sich schützend vor den Apfelbaum. Ich beginne, den Birnbaum zu beschneiden. Meine Frau ruft die Nachbarin zu Hilfe. Die Nachbarin bewacht den Apfelbaum, meine Frau umarmt den Birnbaum. Ohne groß darüber nachzudenken, richte ich den Rasensprenger gegen die Frauen an den Bäumen. Die quietschnasse Nachbarin brüllt ihren Gatten herbei und schreit mich an; ich verstehe kein Wort, es geht wohl um das Wasser. Der Gatte dreht mir den Arm auf den Rücken und bindet mich an den Birnbaum. Er trägt bereits Kriegsbemalung, zückt sein Fischmesser und bietet meiner Frau an, mir die Zunge aus dem Hals zu schneiden. Meine Frau sagt, das würde nichts ändern, lacht und stellt das Wasser ab. Sie umarmt die Bäume, küßt die Nachbarin und verspricht dem Nachbargatten die knackigsten Äpfel vom Baum. Dann sägen sie gemeinsam singend eine Lücke in den Gartenzaun, klettern hindurch und tanzen zu dritt von dannen.
Als ich endlich meine Fesseln zerkaut habe, ist die Nacht vollends über mich eingebrochen. Dumpfe Trommelschläge dröhnen aus Nachbars Garten, Gänse schnattern, Eulen heulen, Pferde wiehern – oder höre ich schon die Fruchtbarkeitsindianer? Leise steige ich in Nachbars Garten. Schatten tanzen um Feuer, spitze Schreie erfüllen die Nacht. Ich pirsche bis auf wenige Schritte heran, dann stolpere ich wieder über die vermaledeite Gießkanne. Die Trommeln verstummen; bin ich entdeckt? Ich presse mein Gesicht ins Erdbeerbeet. Als ich aufblicke, zieht der Indianerstamm Fackeln schwenkend den Kiesweg hinauf und versammelt sich johlend beim großen Ameisenhaufen. Eine Squaw zupft ihren Lendenschurz beiseite, entblößt den Leib und setzt sich mit blankem Hintern auf den Ameisenhaufen.
„Fruchtbar, fruchtbar, fruchtbar …“, singen die Indianer im Chor. Plötzlich quiekt die sitzende Squaw, springt auf die Beine und rennt blitzartig in Richtung des Teiches davon. So geht es reihum, bis alle Frauen im Teich hocken. Die Krieger aber stecken den Ameisenhaufen in Brand. Die Ameisen werden von der Hitze in die Luft geschleudert und verglühen im Nachthimmel. Die Männer tanzen zu den Bienenstöcken und singen:
„Fruchtbar, fruchtbar, fruchtbar ...“
Ich verlasse mein Versteck, trete die letzten Ameisen aus und gehe nach Hause, während in Nachbars Garten der wunderbare Schwänzeltanz der Bienen beginnt.
Bei Sonnenaufgang schleicht meine Frau ins Schlafzimmer. Sie duftet nach Feuer und Wasser und wünscht sich ein Kind. Ich wünsche es ihr auch, von ganzem Herzen. Sie seufzt:
„Mein lieber Mann, du wirst es im Leben immer schwer haben.“
Ich frage mich, wo ich es sonst schwer haben solle, und ich seufze genauso.
Den Rest des Sommers verbringen wir im Garten; wir wippen und warten, wippen und warten, wippen und warten …


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