Kurzgeschichten
Kleine Perle Glück
Geschichten aus dem Neubaugebiet der Herzen
Die "Kleine Perle Glück" entstand zwischen 2003 und 2020. Im Frühling 2019 sendete der Deutschlandfunk Kultur an jedem Samstag eine Geschichte aus als Autorenlesung,
Die Redakteurin Tanja Runow schrieb dazu:
"In den abgründigen Erzählungen mit dem Titel „Kleine Perle Glück“ nimmt uns Carsten Schneider mit in die Welt der Eigenheime, Carports und Gärten. Die Radiokunst von Schneider ist preisgekrönt und oft skurril – so wie diese Einblicke in ein Eheleben. Das Häuschen steht, im Garten sieht man die ersten Knospen an den Zweigen, und zwei Menschen suchen ihr Glück. Carsten Schneider erzählt Szenen aus dem Leben eines Ehepaars. Assoziativ, skurril und manchmal abseitig. Aus ihren Erlebnissen, ihren Tag- und Nachtträumen entsteht eine Welt voller Überraschungen, Hoffnungen und Abgründe. Und auch der im Keller lebende Geist des Großvaters scheint auf einige Fragen keine Antwort zu wissen."
Text der Redakteurin Tanja Runow, abgedruckt im Programmheft des Deutschlandfunks
- Weiter unten liegen einige Geschichten als Leseproben vor.
- Zudem habe ich 33 Geschichten für Sie als Hörbuch eingesprochen.
- Einige Kurzgeschichten sind
online
zu hören auf der Website vom Deutschlandfunk:
Leseproben "Kleine Perle Glück"
Im Sommergarten
Hellblau und rosa weht der Morgenhimmel herbei und erklärt mir ungefragt, warum die Mütter ihre kleinen Kinder in eben diese Farben wickeln. Zufrieden entfalte ich die Zeitung. Meine Frau hat die schlimmsten Nachrichten bereits ausgeschnitten. Die Welt kann so schön sein. Durch die Zeitung sage ich zu meiner Frau:
„Ich brauche dich.“
Sie antwortet nicht. Sie liegt im Garten und weint. Ich schleiche durchs hohe Gras an sie heran wie ein kleiner Hund und schnappe die Wurst von ihrem Brot. Am Komposthaufen stellt sie mich zur Rede:
„Mein lieber Mann, was ist bloß in dich gefahren?“ Ich werfe mich zu Boden, rolle auf den Rücken und strampele mit den Beinen. Meine Frau schimpft:
„Deine ewige Verschlossenheit hat die neuen Nachbarn gestern tief beleidigt!“ – Gestern feierten wir ein Gartenfest, meine Frau, die neuen Nachbarn und ich.
„War ich wirklich verschlossen?“, frage ich treuen Blickes.
„Du hast den ganzen Abend nicht ein Wort gesagt!“
Ich knurre meine Frau an: „Man hat mich ja nichts gefragt!“
„Du hast auf deinem Stuhl gehockt wie ein stummes Stück Holz!“
„Die inneren Worte zählen ...“, entgegne ich trotzköpfig.
Jetzt braust meine Frau auf: „Du ziehst deine Schuhe an und entschuldigst dich bei den Nachbarn!“
„Ja, mache ich.“
Ich klopfe an die Nachbarstür. Die Nachbarsfrau freut sich. Ich lächele. Weiter fällt mir nichts ein. Mein Mut sackt in mir zusammen.
„Möchten Sie meinen Mann sprechen? Der sitzt schon lange bei den Fischen, er angelt im Gartenteich; sehen Sie, wie er in der Sonne schimmert?“ Die Nachbarin knufft mir neckisch in die Seite. Ich packe sie am Hals. Lachend windet sie sich los, bittet mich in die Küche und schenkt mir Kaffee ein. Sie kommt auf meine Kinder zu sprechen. Ich atme tief durch:
„Ja, die Kinder“, sage ich, „die Kinder, die Kinder …“
„Hätte ich Kinder“, säuselt sie, „säßen meine Söhne mit am See. Mein Mann lehrte sie, das Netz zu werfen, mit dem Wind zu sprechen und die Segel zu hissen. Ich stünde derweil mit den Töchtern in der Küche. Wir brühten Kaffee und erwarteten sehnsüchtig die schweren Schritte der Männer auf der Diele, wenn sie wiederkehren in nassen Stiefeln, einen Korb voller Fische auf dem Rücken und einen Strauß von Seerosen unter dem Arm.“
Die Nachbarin lehnt sich weit aus dem Küchenfenster und seufzt. Ich überlege, wie ich der lieben Frau helfen kann, und als es mir einfällt, will ich weglaufen. Sie aber hakt ihren Arm in meinen:
„Kommen Sie, Nachbar, ich zeige Ihnen den Sommergarten!“
Sie reißt mich mit sich:
„Riechen Sie die Pferde? Da drüben grast der Wallach, und daneben steht die Stute, sieht sie nicht trächtig aus? Hier vorn pflanze ich Gemüse, und dahinter sehen Sie die Bienenstöcke. Imkern Sie auch? Kennen Sie den wundervollen Schwänzeltanz der Bienen? Mein Mann zeigt Ihnen das beizeiten. Doch folgen wir nun diesem Kiesweg hinauf bis zum großen Ameisenhaufen. Dort gelangen wir an einen Scheideweg: rechts führt er in den Irrgarten meines Mannes, und zur Linken liegt mein Weingarten. Da sitze ich am liebsten im Schatten der Trauerweiden und träume von meinen Kindern. Ich liebe Kinder und mein Mann auch. Deswegen saß er sogar im Gefängnis. Wir adoptierten Zwillinge, aber die sind nie bei uns angekommen.“
Die Nachbarin schaut versunken zum See hinüber:
„Ich weiß nicht, wo mein Mann so lange steckt? Er versprach, heute noch Holz zu hacken für mein Geburtstagsfeuer am nächsten Sonntag. Sie sind ganz herzlich eingeladen! Und vergessen Sie Ihre Frau nicht, und ziehen Sie sich bitte etwas Indianisches an: Wir planen ein Fruchtbarkeitsritual!“
Ich stolpere über eine Gießkanne in ein Erdbeerbeet. Ich will nach Hause.
„Sie wollen schon gehen?“, fragt die Nachbarin, „darf ich Ihnen wenigstens ein Stück Bienenstich einpacken für die Kinder – oder einen Flamingo für die Frau? Nein? Dann bringe ich Sie jetzt zur Tür.“
Ich hüpfe nach Hause. An der Gartenpforte empfängt mich meine Frau:
„Na, hast du dich bei den netten Nachbarn entschuldigt?“
„Ja, habe ich – innerlich.“ Ich deute auf den Bauch meiner Frau und frage:
„Bist du bereit für ein Kind?“ Doch statt zu antworten, verschwindet sie schnurstracks in der Küche und schließt hinter sich ab.
Gedankenverloren steige ich in den Partykeller hinab und lege eine Patience. Mit jeder Karte erscheinen neue Gäste, trinken Erdbeerbowle, scherzen und verdrehen sich langsam die Köpfe. Verkleidete Kinder huschen uns durch die Beine. Die Nachbarin tanzt mit ihrer Stute, und in der Bowle steht ein rosa Flamingo. Mit der letzten Karte verschwinden die Besucher abschiedslos. Alles ist wie zuvor, nur eine halb ausgesogene Frucht liegt noch auf dem Couchtisch. Mit Weinbrand spüle ich sie herunter, nehme ein Photoalbum aus dem Schrank und betrachte meine Kindheit. Ich sehe den Großvater. Ich lehne den Großvater zurück in den Korbsessel und lausche seinen Geschichten; sie halten die Vergangenheit am Leben. Ich türme einen babylonischen Papierstapel auf den Tisch und sehe den Großvater nicht mehr. Ich höre ihm zu, aber vergesse zu schreiben. „Morgen“, sage ich mir; und morgen ist der Großvater tot. Mein Blatt ist leer.
Ich weine:
„Schatz, ich habe Seife im Auge, komm bitte schnell!“ Wenn ich so jämmerlich rufe, kommt meine Frau stets gelaufen. Sie findet es lächerlich, aber sie kommt. Ich schmiege mich an ihren Hals und schluchze:
„Der Großvater saß wieder im Sessel!“ Sie streichelt mir die Wange. Ich sei ein erwachsener Mann, sagt sie, und sie frage sich, wie ich es bis hierher geschafft habe? Und sie flüstert in mein Ohr:
„Verbrenne den alten Sessel!“ Ich stutze. Ich verstehe zu wenig von meiner Frau. Sie geht in den Garten und schaukelt. Sie schaukelt über Stunden hinweg. Ich beäuge sie durch die Kellerluke. Nur selten springt sie ab, beugt sich zu Boden, pflückt ein trockenes Blatt aus den Beeten und schaukelt dann versonnen weiter. Auf den Höhepunkten ihrer Schwungkurve blickt sie zu den Nachbarn hinüber. Ich rufe meiner Frau ein Kompliment zu:
„Du bist heute unsagbar schön!“ Keine Antwort. Ich rufe erneut:
„Dein Pferdeschwanz flattert im Wind wie ein … ein …“ Mir fällt nur ein Pferdeschwanz ein.
Meine Frau entdeckt mich. Sie schwingt sich von der Schaukel und schüttelt den Kopf. Sie hört nicht auf, den Kopf zu schütteln. Sie steigt auf die Wippe und wartet. Worauf wartet sie? Ich denke nach: Ist mir in den letzten Wochen irgend etwas an meiner Frau aufgefallen? Nein, sie hat sich nicht verändert, ich habe sie nicht verändert, und wir haben uns nicht verändert. Sie muss schwanger sein, tiefschwanger! Ich eile in den Garten, kniee nieder und küsse den Bauch meiner Frau.
Sie stupst mich von sich, glättet ihren Rock, und schmollmundig sagt sie:
„Du weißt, daß wir keine Kinder haben wollen.“ Mich durchzuckt eine Idee. Ich klettere auf den Apfelbaum und linse über den Gartenzaun. Die Nachbarn voltigieren gerade. Die Frau trägt ein silbernes Tutu und spreizt sich auf dem Rücken des Pferdes. Ihr Mann hält gelassen die lange Leine. Ich rufe über den Zaun:
„Hallo! Nachbarn! Wir würden gerne mitreiten! Es geht aber nicht! Denn wir kümmern uns den ganzen Tag um unsere Kinder!“ Die Nachbarin reißt ihren Rappen herum, und ihr Mann hält inne. Die ganze Welt kommt langsam auf mich zu. Ich wende mich zur Gartenlaube und rufe:
„Kinder! – kommt und guckt die Nachbarn an!“ Die Laube steht still und schweigt. Ich laufe in die Laube und rede lautstark mit den Gartenstuhlpolstern. Rasch greife ich einen Zeichenblock, kritzele ein paar Striche aufs Papier und flitze zurück zum Nachbarzaun.
„Schauen Sie, liebe Frau Nachbarin, das haben die Kinder für Sie gemalt! Da sehen Sie die Kleinen auf dem Spielplatz, dahinter die Sonne und den sterbenden Großvater!“ – Ich frage mich, wie der Großvater aufs Papier gekommen ist? – Meine Frau wird so rot wie die untergehende Sonne. Die Nachbarin blickt hoch zu Ross auf mich herab und reitet in den Abendhimmel hinaus.
Der Sonntag beginnt pünktlich. Zum Indianergeburtstag möchte ich der Nachbarin ein neues Bild malen mit dem Titel Die Kinder im Apfelbaum. Doch der Baum sprengt den Rahmen meiner malerischen Möglichkeiten. Ich beschließe, den Apfelbaum entsprechend zu stutzen, greife einen weit herabhängenden Ast und lege die Laubsäge an. Meine Frau hebt die Hände gen Himmel:
„Der Baum hat in diesem Jahr noch keine Früchte getragen!“
Sie stellt sich schützend vor den Apfelbaum. Ich beginne, den Birnbaum zu beschneiden. Meine Frau ruft die Nachbarin zu Hilfe. Die Nachbarin bewacht den Apfelbaum, meine Frau umarmt den Birnbaum. Ohne groß darüber nachzudenken, richte ich den Rasensprenger gegen die Frauen an den Bäumen. Die quietschnasse Nachbarin brüllt ihren Gatten herbei und schreit mich an; ich verstehe kein Wort, es geht wohl um das Wasser. Der Gatte dreht mir den Arm auf den Rücken und bindet mich an den Birnbaum. Er trägt bereits Kriegsbemalung, zückt sein Fischmesser und bietet meiner Frau an, mir die Zunge aus dem Hals zu schneiden. Meine Frau sagt, das würde nichts ändern, lacht und stellt das Wasser ab. Sie umarmt die Bäume, küßt die Nachbarin und verspricht dem Nachbargatten die knackigsten Äpfel vom Baum. Dann sägen sie gemeinsam singend eine Lücke in den Gartenzaun, klettern hindurch und tanzen zu dritt von dannen.
Als ich endlich meine Fesseln zerkaut habe, ist die Nacht vollends über mich eingebrochen. Dumpfe Trommelschläge dröhnen aus Nachbars Garten, Gänse schnattern, Eulen heulen, Pferde wiehern – oder höre ich schon die Fruchtbarkeitsindianer? Leise steige ich in Nachbars Garten. Schatten tanzen um Feuer, spitze Schreie erfüllen die Nacht. Ich pirsche bis auf wenige Schritte heran, dann stolpere ich wieder über die vermaledeite Gießkanne. Die Trommeln verstummen; bin ich entdeckt? Ich presse mein Gesicht ins Erdbeerbeet. Als ich aufblicke, zieht der Indianerstamm Fackeln schwenkend den Kiesweg hinauf und versammelt sich johlend beim großen Ameisenhaufen. Eine Squaw zupft ihren Lendenschurz beiseite, entblößt den Leib und setzt sich mit blankem Hintern auf den Ameisenhaufen.
„Fruchtbar, fruchtbar, fruchtbar …“, singen die Indianer im Chor. Plötzlich quiekt die sitzende Squaw, springt auf die Beine und rennt blitzartig in Richtung des Teiches davon. So geht es reihum, bis alle Frauen im Teich hocken. Die Krieger aber stecken den Ameisenhaufen in Brand. Die Ameisen werden von der Hitze in die Luft geschleudert und verglühen im Nachthimmel. Die Männer tanzen zu den Bienenstöcken und singen:
„Fruchtbar, fruchtbar, fruchtbar ...“
Ich verlasse mein Versteck, trete die letzten Ameisen aus und gehe nach Hause, während in Nachbars Garten der wunderbare Schwänzeltanz der Bienen beginnt.
Bei Sonnenaufgang schleicht meine Frau ins Schlafzimmer. Sie duftet nach Feuer und Wasser und wünscht sich ein Kind. Ich wünsche es ihr auch, von ganzem Herzen. Sie seufzt:
„Mein lieber Mann, du wirst es im Leben immer schwer haben.“
Ich frage mich, wo ich es sonst schwer haben solle, und ich seufze genauso.
Den Rest des Sommers verbringen wir im Garten; wir wippen und warten, wippen und warten, wippen und warten …
Im Urlaub
Durchfallartige Regenfälle auf der A7 behindern den freien Warenverkehr. Landauf, landab Land unter. Kleckermatschige Kinder strudeln am Straßenrand den Gullys entgegen. Lehrer schlagen mit Leitplanken um sich, und alles, was fliegen kann, fliegt, alles, was schwimmen kann, schwimmt, alles hupt und zetert, und alles, was singen kann, schweigt. Ich aber sage zu meiner Frau:
„Liebe Frau, laß uns aufs Flachland fliehen, es klingt flach, doch es ist struppig und schön. Morgens werde ich Milch kaufen vom netten Nachbarn: ‚Sagen Sie, Nachbar, kann ich bei Ihnen Milch bekommen?’ Der Bauer schnalzt mit der Zunge, und sein Blick peitscht mich aus: ‚Leider nein, mein lieber Herr, denn uns ist in aller Früh die Kuh ausgelaufen.’ Und dann lacht er, und dann lache ich, und dann stoßen wir an, er auf seinen Humor und ich auf meinen. Die Pferde brrren und scheinen zu frieren. Es ist kalt am nebligen Morgen.“
„Nein, nein, nein“, sagt meine Frau, „ich will nicht ins Flachland fahren.“ Und dann verlangt meine Frau mit Vehemenz: „Bergurlaub!“
So fahren wir mit Bus und Bahn in die einsamen Berge der Wälder. Ein hoher Berg, ein dichter Wald, eine windschiefe Hütte und meine Frau. Hier oben meckert sogar eine Ziege im Stall, und meine Frau möchte, daß ich mich daneben lege, und dann will sie uns malen. Sie bindet mich an den Ziegenpfosten, was ich nicht verstehe, und sie sagt, es sähe heiliger aus, was ich verstehe.
Am nächsten Morgen liege ich noch immer heilig im Stroh und fröstele ein wenig. Ich höre Stimmen; die erste Wanderfamilie kraxelt den steilen Berghang hinauf. Da öffnet jemand die Türe zum Stall! Spitznasig späht eine Dame hinein. Ich versuche, so auszusehen wie Heu. Es funktioniert. Die Dame zieht ihre Nase zurück. Die Familie wandert weiter. Wo steckt eigentlich meine Frau? Ich schreie wie ein Hahn. Meine Frau kommt. Wir wandern den Tag lang über die Alm. Und als es regnet, gehen wir zurück in die Hütte. Wir sitzen in der Hütte. Der Wind heult. Regen klatscht gegen die einzige Scheibe. Die Scheibe zittert, meine Frau zittert, und ich weine. Wir beschließen, Witze zu machen und gemeinsam zu lachen. Meine Frau fängt an und erzählt einen spanischen Witz. Es geht um den Rosenkranz ihrer Mutter und um den Wind, der die Kerzen ausbläst, es geht um unsichtbare Wesen auf dem Rücken, und du kannst dich nicht drehen, und ich blicke meine Frau an, und sie zittert, und ich bitte sie flehentlich um die Pointe. Meine Frau sagt, da draußen sei etwas! Ich sage, da draußen solle es bitte bleiben. Meine Frau vermutet, ich sei zu feige, für den einsamen Berg. Ich beschließe, meine Ehe zu verteidigen und sage:
„Liebe Frau, ich trat nur kurz vor die Tür. Ich stolperte in eine Pfütze und wurde von einer alten Frau ins Dickicht getragen. Die Alte kümmerte sich um meine Genesung. Morgens brachte Sie mir Hafer, und langsam kam ich wieder zu Kräften. Sie lehrte mich, mit dem Wind zu sprechen und den Kampf der Kreatur zu genießen. Dann verstarb sie. Ich verbrannte ihre Hütte und ging. Ich blickte mich nicht um. Ich muss bis zum Abend gelaufen sein, als ich einen Hafen erreichte. In einer Kaschemme traf mich der Blick des Wirtes. Er fragte mich, ob ich etwas wünsche, und ich sagte «Wein». Er wurde aufbrausend, zog mich auf seinen Fischkutter, und wie vom Teufel gehetzt, peitschte er die Schaluppe in das offene Meer hinein. Ich war erstaunt und erklärte ihm, daß ich mich um eine Verwechslung handeln müsse. Daraufhin jagten wir zurück ans Land, wo der Wirt hinter einer Wand verschwand. Ich trocknete mein Haar und kam direkt hierher. Das ist die ganze Geschichte. Liebe Frau, bitte glaube mir jedes Wort.“
Meine Frau glaubt mir kein Wort. Sie bricht sofort den Bergurlaub ab. Sie fährt mit dem Zug nach Hause. Ich fahre mit dem nächsten Zug hinterher.
Zuhause klopfe ich. Niemand öffnet. Dann klingele ich, ich läute. Ich gehe ums Haus herum und rufe ihren Namen. Kein Vorhang bewegt sich. Ich rufe meinen Namen. Nichts. Ich schlage mit einem Ast ein Fenster entzwei. Drinnen liegt ein Zettel: Ich hätte im Urlaub versagt, steht da. Sie sei in einen anderen Urlaub gefahren, ich müsse nicht wissen wohin, ich würde mir doch nur Sorgen machen. Gut, mache ich. In der Küche liegt ein zweiter Zettel. Darauf steht, ich könne nicht kochen.
Die Küche ist neu für mich. Meine Frau hat mir verboten, zu kochen; ich bekam Küchenverbot. Wenn sie in die Küche ging, wie andere in die Kirche, zog sie ihr schwarzes Kleid an und verschleierte den Blick. Niemand wusste, ob sie weinte oder glücklich war in der Küche.
„Eine Frau braucht einen Raum für ihre Träume“ hat sie an die Küchentür geschrieben und darunter:
„Ich verlasse Dich für immer.“ Das hätte sie auch früher sagen können. Am besten hätte sie mir das gesagt, bevor wir uns kennenlernten. Sie ist damals gestolpert in der Rollerdisko, und ich half ihr auf den Roller zurück. Hätte sie damals nicht gelächelt, sondern gleich gesagt „ich verlasse dich für immer“, dann hätte sie mir und sich einiges erspart. Ich gehe in den Garten und weine. Die Blumen drehen die Köpfchen weg. Ich sehe die von mir zerbrochene Scheibe und rufe den Versicherungsvertreter.
Mein Vertreter ist kaum zu bremsen. Ich führe ein unsicheres Leben, sagt er. Er könnte so nicht leben, nein, und seine Frau erst recht nicht. Ich sei gänzlich unterversichert, sagt er. Er schluckt. Und dann fällt ihm eine kleine Fabel ein, die genau auf meinen Fall passt:
„Eine kleine Grille hat es sich in den Kopf gesetzt, einen Bären zu fangen. Der Grille Wille war es, sich aus dem Felle des Bären einen Mantel für den Sommer zu schneidern. Aber die Zirpen lachen über die Grille, weil im Sommer niemand einen Bärenmantel brauche, auch der Bär nicht! ...“
Wenn mein Vertreter mir nicht gleich die Versicherung verkauft, dann drehe ich durch. Ich schließe sofort eine Wintereinbruchsversicherung ab. Das wird meine Frau freuen, falls sie einmal wiederkommt. Dann kommt ein Telegramm: „Komme morgen wieder“.
Ich lege mich zu Bett und drehe mich die ganze Nacht um mich selbst. Heute soll meine Frau zurückkommen aus dem Zweit-Urlaub: Nun klingele schon! Nun klingele endlich. Warum klingelt sie nicht? Ich gehe vor die Tür und drücke die Klingel. Die Klingel klingelt normal. Ich hätte sie gehört haben müssen. Ich setze mich ins Haus zurück und warte. Worauf warte ich eigentlich? Ach ja, es ist meine Frau.
Ein Taxi dreht auf der Einfahrt. Meine Frau steigt aus. Meine Frau geht in die Garage. Ich freue mich. Meine Frau kehrt aus der Garage zurück, sie hat ihren Roller geschultert und setzt sich zurück ins Taxi. Ich winke aus dem Fenster dem Taxi hinterher. Hinterher ist man immer schlauer. Und im Garten grillen die Zirpen einen Bären.
Das neue Hobby
Meine Frau hat sich ein neues Hobby zugelegt. Sie will aber partout nicht verraten, welches: Ich würde es früh genug erfahren. Ich will auch ein neues Hobby! Dazu besuche ich das Hobby-Fachgeschäft im Neubaugebiet und lasse mich vom aufdringlichen Fachverkäufer eindringlich beraten.
„Soll es ein sinnvolles Hobby sein?“ fragt er und wirbelt um mich herum, und er macht dabei Zaubertricks mit Würstchen und Kartoffelsalat. Vollmundig sagt er:
„Also, mein Herr, ich denke, ein schönes Hobby für Sie wär, jeden Samstag auf dem Marktplatz eine Schießbude zu betreiben!“
„Ja, schon schön ...“, stochere ich in meinen Gedanken und suche den Grund: „Ich glaube eher an ein konventionelles Hobby, vielleicht was mit Bastelschere und Stanniolpapier?“
„Ooooooo“, staunt der Verkäufer, und ihm blubbern Silberblasen aus dem Hinterkopf:
„Unsere Bastelwelt ist riesengroß! Kommen Sie mal bitte mal bitte mal mit mir mit mir mit.“
Hinter der Hobbylobby öffnet er die Tür zum Bastelkeller: da sitzen sie und basteln: der Herr Bürgermeister nebst Gattin und Tochter, der Mann von der Frau vom Eiscafé, zwei Schulknaben und hinten in der hintersten Bastelecke ein sabbernder Greis aus einem Gruselfilm, den ich als Kind schon mal sah. Es ging um eine Irrenanstalt am Rande des Waldsees. Daran war ein Internat angeschlossen. Und jeden Samstag gingen sie rudern. Doch knapp bevor meine Erinnerung mich verängstigt, sage ich:
„Ich möchte ein ganz einfaches Hobby! Vielleicht Laub sägen oder Puzzle puzzlen!?“
Der Fachverkäufer wird schlagartig ernst und seine Frisur fällt zu Boden:
„Brrr, mein Herr, da haben wir einen Puzzleengpass ...!“
„Ja, na gut, … aber, wie gesagt: vielleicht die Bastelschere?“
„Herzjesu, da müssen Sie morgen wiederkommen!“
Ich gehe ohne Hobby nach Hause. Daheim finde ich meine liebe Frau auf dem Dachboden. Ich steige zu ihr, stolpere, es blitzt fürchterlich, ich falle … in einen Haken, meine Hand schreit laut. Da ist noch jemand, ein Mann. Er trägt einen schwarzen Schleier. Meine Frau beunruhigt mich:
„Wir machen hier Photos!“, liebsäuselt sie.
„Professionelle!“, ergänzt der junge Schleiermann.
„Das professionelle Photoportrait – Mein neues Hobby!“ strahlt meine Frau und treibt mich an, rasch die Fleischwunde der Hand auszuwaschen und kräftig zu jodieren.
Später im gemeinsamen Wohnzimmer präsentiert der junge Mann die fertigen Hobbyphotos meiner Frau. Alles sieht wahnsinnig professionell aus, sagt er. Ich glaube ihm und finde das neue Hobby meiner Frau sagenhaft schön. Es hat so was ... professionelles. So eins brauch ich auch. Sie aber sagt:
„Immer machst du alles nach! Du musst eigene Ideen entwickeln, nicht meine!“
Also trabe ich am nächsten Tag zurück ins Bastelzentrum, die schummrige Sabberecke ist noch frei, und ich will den ganzen Tag lang sabbern. Doch der Verkäufer legt mir ein Zauberbuch vor: Kaum schlage ich es auf, bin ich wieder Zuhaus.
Im Hintergarten liegt meine Frau unter dem elektrischen Rasenmäher. Ich schüttle bewundernd das Haupt, gehe ins Haus, rücke mich ins rechte Licht und lese. Ja, ich lese! Das soll jetzt mein Hobby sein – Ich lese in allen Büchern aber nur die As. Ich beginne mit den Märchen der Brüder Grimm. Und tatsächlich erscheinen sie in einem völlig neuen Licht, besonders das Rotkäppchen, da heißt es: „…ä… … ...a... …a… ...... …ä…, …a… …a… …a… ..., a…a…, “
Der Meisterdieb
Ich möge ihr bitte einen großen Sack frischer Blumenerde in den Rosengarten bringen, es sei dringend, ruft meine Frau:
„Aber nicht die billige, nicht die mit den toten Ameisenklumpen, die nicht!“
Ich durchkrame die Laube, es scheppert, klappert, klingt. Da stoße ich auf das olle Ölbild! Dieses Ölbild hat mein Vater mir zum zehnten Geburtstag geschenkt. Es zeigt einen spiddeldürren, weinenden Jungen, barfüßig, gebeugt, geknickt, in der Hand eine Leine, an der Leine ein rotes Spielzeugsegelboot; das zieht er durch den staubigen Sommersand. Mit dem Bild unterm Arm laufe ich zu meiner Frau:
„Schau, liebe Frau! Das Gemälde! Ein Geburtstagsgeschenk meines Vaters!“ Es war nämlich so: Als ich am Morgen aus dem Kinderzimmer tapse, ins Wohnzimmer zu flitzen, um Kuchen und Geschenke zu sehen, knalle ich gegen das Stehpult meines Vaters. Es steht genau vor meiner Kinderzimmertür, ich komme gar nicht durch - und dahinter, zehn Meter hoch, mein Vater. Mutter kniet seitwärts hinten in der dunklen Flucht des Flures und winkt verschüchtert herüber. Vater hebt an zu einer kleinen Rede – ich kann sie heute noch wiedergeben, weil mir Jahre später sein Redemanuskript in die Hände fiel. Ein blaues, kleinkariertes Buch, darin sämtliche Gesprächsvorbereitungen meines Vaters. Er hat sogar die Familienspielabende genauestens vorbereitet: Rommé-Witze, Mikado-Sprüche, Schach-Anekdoten. Und selbst die einsamen Spaziergänge mit meiner Mutter waren im Vorfeld fein durchformuliert.
Heute, zu meinem zehnten Geburtstag thront der Vater also vor der Kinderzimmertür:
„Einen herzlichen Glückwunsch, dir, meinem eingeborenen Sohn. Dies ist ein Freudentag für deine Eltern, weil du nun kein Kind mehr bist. Denn wisse: Du warst immer ein anstrengendes Kind, von Geburt an, besonders für deine Mutter. Doch genug davon, denn an diesem Ehrentag, wollen wir Altvorderen der Phantasie ein Törtchen backen. Drum sage, mein Sohn: Was willst du werden, wenn du groß bist? … sag schon … frei von der Leber weg! Kannst alles sagen … keiner tut dir was ...“
Da stehe ich und friere erbärmlich. Aus dem Flurschatten winkt Mama. Eigentlich muss ich zum Klo, doch stattdessen weine ich.
„Jetzt hat er in die Hosen gemacht! Am Geburtstag!“ Der Vater schüttelt sich. Wenn ich jetzt still bleibe, muss ich sterben, das weiß ich; drum nehme ich allen Mut zusammen und sage:
„Vater, o Vater, ich will ein Meisterdieb werden!“
„Hmh“, räuspert sich der alte Mann, „ein Ansatz – darauf kann man aufbauen! So, nächstes Thema: Wir erwarten dich in fünf Minuten getrocknet und gebleicht am Geburtstagstisch. Du bekommst ein ganz besonderes Geschenk. Beim Auspacken wirst du etwas Schönes singen. Und jetzt ab ins Bad, du kleiner Meisterdieb!“ Da flitze ich – husch! – ins Badezimmer. Mein Vater hat mich „Kleiner Meisterdieb“ genannt! Das ließ mein Kinderherz vor Glück fast explodieren.
Unten, auf dem Geburtstagstisch, stand der Kuchen. Mutter hatte ihn gebacken, und er war so trocken, daß er Feuer fing, als ich die Kerzen ausblies. Dann bekam ich das Ölbild geschenkt, genau dieses Bild mit dem Spiddelkind und dem kaputtenen Spielzeugschiff an der Lotterleine. Es war mein erstes Bild. Ich staunte:
„Vater, sag, wer ist der Junge? Was mache ich denn mit seinem Bild? Das ist doch sein Bild! Wer ist denn das? Oder bin ich das, oder bist du das?“ Die Antwort blieb mir versagt. Der Blick des Vaters zwang mich zu stiller Einfalt. Ich sang nochmal mein Geburtstagslied, die Eltern hatten sich bereits zurück ins Sonntagsbett gelegt, nachmittags kamen Nachbarkinder zum Spielen, aber meistens gewann der Vater, auch beim Topfschlagen und Schokoladenwegessen.
Das war der zehnte Geburtstag, und schon damals, noch am selben Tag, bekam ich ein bisschen Angst vor dem elften … Am elften Geburtstag fuhren die Eltern in ihren wohlverdienten Skiurlaub, ich war allein zu Haus, deshalb ging es.
Jetzt halte ich mir und meiner Frau das Gemälde vors Gesicht.
„Tja, was mache ich nun mit dem Bild?“ frage ich, „soll ich es am Strick hinter mir herziehen, so wie der Junge sein Segelboot?“
Und wie ich das Bild drehe und wende und zum ersten Mal die widmenden Worte meines Vaters lese, fange ich an zu zittern. Doch meine liebe Frau hält mich ganz fest fest, bis der Abend kommt, und das Bild verschwindet.
Die verborgene Kammer
Als ich am Morgen erwache, sind alle meine Träume zu Ende. In Form einer Hundezunge leckt die Realität mir durchs Gesicht. Zuerst denke ich blinzelnd, es wäre meine Frau, oder der Waschlappen einer Krankenschwester. Aber es ist ein Hund, hechelnd lächelnd und mit vielen Haaren vor den Augen. Wir haben gar keinen Hund.
„Wir sollen auf ihn aufpassen“, sagt meine Frau, „er gehorcht den Nachbarn vom Ende der Straße. Die sind im Urlaub und wir nicht. Also, gaben sie heute früh den Hund hier ab.“
„Aha“, nicke ich nichtssagend. Der Hund freut sich über mich. Wir gehen in den Garten und ich werfe Stöckchen. Er sitzt neben mir und guckt zu. Ich sage:
„Wo ist die Wurst? Na? Wo ist die Wurst?“ Aber der Hund weiß es nicht.
Von drinnen ruft meine Frau. Meine Frau hat im Hause eine verborgene Kammer entdeckt. Sie getraut sich nicht, diese zu öffnen. Stattdessen flitzt sie sofort zu mir, ganz nah, und ich lege die Arme des Ritters um sie. Der Hund guckt zu. Sie flüstert:
„Glaub mir, Schatz, eine schmale Klinke, klein, vielleicht Messing, wahrscheinlich aus Eisen: ich konnte sie nicht drücken, ich konnte nicht …“
Sie blickt mich rehkitzig an. Ich weiß schon, was jetzt kommt: Ich soll die Tür öffnen. Ich soll da reingucken, in die Kammer, und ich soll da reingehen in die Kammer! Aber sie sagt ganz was anderes:
„Maure sie zu. Mache sie dicht. Verschließe die Kammer. Für immer!“
„Ja, klar, mach ich“, sage ich, „aber sag einmal: woher weißt du, daß eine Kammer hinter der Türe liegt, da du die Türe doch gar nicht geöffnet hast?“
Sie blickt mich an wie einen Gott. Und dann erzählt sie mir die bösesten Beispiele in denen hinter knarzigen Türen bitterböse Kammern lagen. Ich hingegen vermute einen Schatz, einen Welfenschatz, leuchtende Smaragde, güldene Broschen, einen Shawl aus Persien, einen Schatz eben. Aber meine Frau besteht darauf, daß ich die Tür zumaure. Der Hund bleibt neutral.
Ich steige hinab in den Keller. Mein Großvater schaut mir beim Zumauern zu. Er verstehe mich nicht, sagt er: er hätte reingeguckt, sagt er.
„Wollte ich ja auch“, stimme ich ein, „aber was soll ich machen? Für das Hausinnere ist meine Frau zuständig. Meine Verantwortung liegt draußen.“
„Ja, ja“, nickt der Großvater, „ich hätte sie trotzdem aufgemacht.“
„Ja! Hätte ich ja auch!“, wiederhole ich mich, und wir beginnen, uns im Kreise zu drehen, bis es dem Hunde ganz schwindelig zumute wird.
Doch das ist eine andere Geschichte ...
und die wird ein andermal erzählt!